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Xenophilie.

|© Astrid Miglar www.astridmiglar.at|

Trommelwirbel ertönt. Ein Mann, prunkvoll gekleidet wie ein Zirkusdirektor, jedoch bereits abgekämpft wirkend, tritt auf die Bühne. Sanft bewegt sich der dunkelrote Vorhang in seinem Rücken. Detaillierte Blicke auf die Geschehnisse auf den Schauplatz Weltbühne werden noch verhindert.
Die Hitze im Saal ist unerträglich. Ebenso die Anspannung. Der Mann sieht sich um, murmelt – gerade noch verständlich für diejenigen, die in der ersten Reihe Platz genommen haben -, dass noch nie derart viele Besucher anwesend waren. Schließlich lächelt er, nimmt seinen staubigen Zylinder ab und verbeugt sich. Hinterm Vorhang hört man Donnergrollen. Der Saal bebt. Brocken der goldenen Stuckverzierung lösen sich von Decke und Balkon und fallen zu Boden. Erschrockene Schreie ertönen. Der Mann nimmt von diesen Widrigkeiten kaum Notiz. Wartet. Und als das Grollen verstummt ist, erhebt er seine Stimme.

„Meine Damen und Herren, Mesdames et Messieurs, Ladys and Gentleman, liebe Kinder. Herzlich willkommen! Viele von uns waren schon immer Experten, was den Klimawandel betraf, bis sich die Ereignisse überschlugen, … nein, warten Sie, ich formuliere es besser, … bis die Ereignisse eine dramatische Entwicklung nahmen.“

Der Redner hält inne. Er sieht sich um. Sein Gesicht ziert ein teuflisches Lächeln. Schließlich tritt er einen Schritt vor, wirft seinen Zylinder achtlos zur Seite und wühlt in seiner Jackentasche. Daraus zerrt er ein völlig zerknittertes Taschentuch hervor und wischt sich den Schweiß vom Gesicht. Er atmet tief ein, schreitet an den Rand der Bühne, breitet die Arme aus. Das Taschentuch fällt flatternd in die Menge, was den unmittelbar betroffenen Gästen in der ersten Reihe Ekel ins Gesicht spült. Einer flüstert seinem Sitznachbar zu, dass er sich etwas mehr Würde erwartete hätte an diesem besonderen Tag. Im hinteren Saalbereich rumort es. Offenbar drängen sich noch weitere Gäste in die ohnehin bereits gut besuchte Vorstellung. Der Mann auf der Bühne ist darüber erfreut. Wie das Rumpelstilzchen aus dem bekannten Märchen hüpft er von einem Bein auf das andere, mit dem einzigen Unterschied, dass er gut gelaunt wirkt. Er klatscht in die Hände und ruft: „Zögern Sie nicht! Suchen Sie sich einen freien Platz. Kommen Sie nach vorne. Auch hier sind noch etliche Plätze, die es einzunehmen gilt. Erste Reihe. Fußfrei. Seien Sie mit dabei, wenn sich die Erde ein letztes Mal aufbäumt und den Virus Mensch abschüttelt. Und ich bitte Sie, vergessen Sie nicht: Die Optik auf dem letzten Selfie ist von wesentlicher Bedeutung, wogegen WIR Ihnen eine Inszenierung in höchster Qualität versprechen. Pur. Live. Ungeschönt. Bedenken Sie außerdem: bevor das technische Netz zusammenbricht, müssen Ihre Aufnahmen mehrfach um die Welt gelaufen sein, denn alle wollen noch ein letztes Mal gesehen werden. Bestimmt, das verspreche ich Ihnen, erwarten Sie heute noch spektakuläre Dramen um Akkureserven auf den Handys.“
Er sieht nach oben, winkt in die Logen, verbeugt sich wieder und wieder und klatscht dann huldvoll.
„Auf den Ehrentribünen begrüßen wir den Papst, viele hochrangige Politiker, die sich bis zuletzt nicht dazu durchringen konnten, entsprechende Klimaschutzziele umzusetzen. Einige wenige Präsidentinnen befinden sich unter uns, dafür aber umso zahlreicher die Präsidenten untergehender Staaten. Wir begrüßen besonders herzlich einen Diktator, der zuletzt viel von sich reden machte. Applaus meine Damen und Herren, vor allem auch für Judith Maria Winterbauer, die den Platz neben den Berühmten und Berüchtigten gewonnen hat. An dieser Stelle danken wir dem kleinen, aber feinen Radiosender Mood of doom für deren Organisation des Gewinnspiels und der Auswahl der Gewinnerin. Notariell alles ordnungsgemäß natürlich.“
Judith Maria Winterbauer, die völlig unerwartet diesen Gewinn einsackte, weil ihr Ehemann ihren Namen und die Mailadresse angab, in der Hoffnung, einen SUV zu gewinnen, weiß nicht, soll sie lachen oder weinen. Durfte sie doch ihren Mann nicht zu diesem außerordentlichen Empfang mitbringen. Der dagegen – und das tröstet Judith ein wenig – sitzt zuhause. Mit seinen Stammtischkollegen vom Schwimmclub Forelle öffnet er vermutlich gerade eine der letzten Dosen Thunfisch. Erworben vor etwa 25 Jahren, als Thunfische noch zahlreich in den Meeren vorhanden waren. Aber, ein besonderer Tag benötigt besondere Genüsse, daher gönnt Judith ihrem Mann und seinen Kollegen dieses nette Extra. Judith seufzt wohlig und betrachtet verträumt den Diktator an ihrer Seite. Was für ein Mann. Einer mit Zielen. Einer, der die Fäden in der Hand hält. Dem die Menschen ihr Leben unterordnen. Ob sie wollen oder nicht. Der Theatermann, der immer noch aufgeregt auf der Bühne herumhüpft, reißt Judith aus ihren Gedanken.
„Sie bemerken, wir machen keinen Unterschied. Völlig gleichgültig, ob Sie obdachlos sind oder Königin eines europäischen Landes, ob Sie mit dem Lamborghini zu McDonald‘s fahren oder auf ausgelatschten Schuhen Ihre Runden ziehen. Auch Ihre Hautfarbe spielt erstmals im Leben keine Rolle. Nicht das Alter, nicht Ihr Geschlecht oder Ihr Kontosaldo. Schlucken Sie die bittere Pille. Sie sind nicht allein. Vernichten Sie Ihr Testament. Verabschieden Sie sich von Ihrer Geliebten, denn die liebste aller Ehefrauen will bestimmt, dass Sie in diesem besonderen Moment Ihre Hand halten. Zerreißen Sie Ihren Organspendeausweis. Vergessen Sie die Zahlungsaufforderungen Ihres Reisebüros zum kommenden Urlaub. Heute gibt es Wichtigeres zu bestaunen.“

Fanfarenstöße erklingen. Der Mann schweigt sekundenlang. Alle halten den Atem an. Es herrscht endlich Stille. Erst als er diese Stille völlig ausgereizt hat, zaghafte Unruhe aufkommen will, stellt sich der Moderator in die Bühnenmitte und starrt in die Menge. Das Licht wird gedimmt. Sein Gesicht wirkt durch diese Reduzierung wie eine Fratze. Seine Stimme, die zuvor laut, regelrecht verkaufswerbend aggressiv durch den Saal tönte, ist nun leise. Die Anwesenden halten sekundenlang die Luft an, um nichts zu überhören.

„Willkommen zum großen Finale. Sollte Sie der Lärm irritieren, machen Sie sich bitte keine Sorgen. Wir achten natürlich sorgsam darauf, dass die Lärmbelästigung gering bleibt. Kostenlos verfügbare Ohropax befinden sich in den Boxen in Ihren Sitzreihen.“
Er zeigt auf orange Boxen, die an den Rückenlehnen der Stühle befestigt sind.
„Ich appelliere an alle Teilnehmenden: Stehen Sie dem Weltuntergang atemlos, aber positiv gegenüber. Beruhigen Sie die Babys. Bald haben auch die Kleinsten den letzten Schrei getan und werden mit vor Verblüffung aufgerissenen Augen den Untergang bewundern.“
Die Stille im Saal ist nun beinahe unerträglich. Rasch spricht der Moderator weiter. Das Letzte, was er möchte, ist vorzeitig Panik zu schüren. Ihm reichen schon die entgeisterten Gesichter der Politiker, die jahrelang etwas hätten ändern können, aber zu wirtschaftsversessen waren und ihre eigenen Säckel nicht genug füllen konnten. Niemand hörte auf die Warnung der zunehmend von künstlicher Intelligenz ersetzten Wissenschaftler, Fridays for Future wurden genauso ignoriert wie die letzte Generation der Klimaaktivisten, die sich auf Straßen klebte. Aber jegliche Ignoranz und jeglicher Lobbyismus werden heute ihr Ende finden, eine neue Welt wird sich bilden, die den Virus Mensch einfach abschüttelt. Für die Menschheit ist das auf den ersten Blick nicht besonders positiv, das ist dem Mann wohl bewusst, daher versucht der Conférencier zarten Optimismus zu verströmen, denn tief in ihm ist seit Ewigkeiten der schöne Satz Die Hoffnung stirbt zuletzt verankert. Er richtet sich auf und versucht sich in einer allerletzten Motivation:
„Kopf hoch! Vergessen Sie nie“, ruft er nun mit lauter Stimme, „Aufgeschlossenheit bis zum bitteren Ende ist eine wunderbare Charaktereigenschaft. Und …“ An dieser Stelle legt der bunt kostümierte Moderator wieder eine Pause ein und gönnt sich mehrere wohltutende Atemzüge aus einer Sauerstoffflasche, bevor er in einer großen Armbewegung auf die VIP-überfüllten Logen zeigt. Und tatsächlich recken sich die Hälse und Köpfe rucken in die Höhe. Er wendet sich den Ehrenlogen zu, in der Schwitzende in roten Samtsesseln sitzen und keine Blicke mehr übrig haben für die schöne Ausstattung des altehrwürdigen Opernhauses, in dem sie sich befinden.
„Besonders Sie – meine lieben Ehrengäste – sind seit ewig und immer ein wichtiger Teil der Gesellschaft. Ohne Sie und die Generationen Mächtiger vor Ihnen gäbe es keine Kriege, keinen Klimawandel, keinen Weltuntergang. Aber, nun habe ich Ihre Geduld genug strapaziert. Ich bitte um Applaus. Möge das Drama Schöne neue Welt beginnen. Vorhang auf!“

Und der tiefrote, schwere Samtstoff des Vorhangs hebt sich …


Mit Erlaubnis der Autorin dürfen wir ‚Xenopholie‘, erschienen in der Anthologie ‚Die letzten Tage des menschlichen Denkens‘ in der Vienna Academic Press (Wiener Verlag) auch hier veröffentlichen. Danke!

Astrid Miglar www.astridmiglar.at

Ich lebe in Reichraming, einer Gemeinde direkt am Eingang zum Nationalpark Kalkalpen. Ich arbeite, wie viele andere Menschen auch. Zusätzlich bin ich
Autorin und außerdem Gründungsmitglied von textQuartett Steyr, einem literarischen Zirkel, den es seit Anfang 2019 gibt. Wir treffen uns regelmäßig, halten fallweise Lesungen ab und stellen uns vor allem die Aufgabe der textlichen Vielseitigkeit. Außerdem bin ich Mitglied bei SgAG und verrate gern, dass diese Abkürzung für ‚Spontan gegründete Autorengemeinschaft‘ steht. Schön langsam geht mir die Freizeit aus, aber Termine für einen weiteren Stammtisch und die dazugehörigen Treffen bekomme ich bestimmt noch unter.