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Die Theaterprobe: Zukunft – JETZT!

|© Ute Freyschlag|

Im Jahr 2110: Vater und Sohn sitzen unter einem großen, fremdartigen Baum. Vögel zwitschern, klingen aber anders, als wir es kennen. Sonnenlicht fällt in einem ungewohnten Winkel ein.

Vater: „Weißt du, mein Junge, damals lebten sie so ähnlich wie wir jetzt. Damals, als sogar die industrielle Revolution und die digitale Revolution noch ferne Zukunftsmusik waren. Lange, lange vor unserer Zeit…“
Sohn mit herzanrührendem Blick: „Und warum ist dann alles so schlimm geworden, Papa? Warum mussten so viele sterben?“„Jaaa! Gut! Schau ihn mit einem Dackelblick an, den die Welt noch nicht gesehen hat, Burli! Sehr gut!“ ruft der Regisseur begeistert.
Vater: „Das können wir uns kaum ausmalen!“
Springt auf und geht erregt vor dem Sohn auf und ab.„Es gab sehr viele Menschen, viel mehr als heute, und von denen lebten viele in absoluter Armut unter unvorstellbaren Umständen.“
Bleibt mit dozierenden Gesten stehen.
„Jene, die nicht arm waren, lebten auch unvorstellbar – für uns heute. Sie verbrannten Erdöl in unfassbaren Mengen, sie verkannten es, sie waren vollkommen abhängig davon und gleichzeitig vollkommen achtlos damit.  Sie machten daraus Dinge, die in Wahrheit niemand brauchte, und warfen sie einfach in die Umgebung – noch heute finden wir diesen altertümlichen Müll massenhaft an den unmöglichsten Stellen! Und sie verlernten, ihre Bedürfnisse selbst zu stillen, sie waren nur noch in Abhängigkeit von komplexen Systemen fähig, überhaupt zu überleben. Man könnte meinen, sie verlernten auch, selbstständig zu denken. Degeneriert waren sie.“
Die Stimme hebt sich, er spricht schneller werdend.
„Immer wärmer wurde es, immer weniger sauberes Wasser hatten sie zur Verfügung, immer schwieriger wurde es, die schmutzige Luft zu atmen, immer mehr Menschen starben allein an Krankheiten, die die rasante Erwärmung des Lebensraums begünstigte. Viele andere Menschen starben in Kriegen um fruchtbares Land, die auf der ganzen Welt wüteten. Als die Veränderung ihren Höhepunkt hatte, überlebten…“
„Nein! Nein! Erst nach „…nur ganz wenige.“ setzt du dich wieder hin, Erwin, nicht schon vorher! Kannst du dir das nicht merken?!“, schimpft der Regisseur.
„Bei diesem blöden Text nicht!“ giftet Erwin zurück. „Ich kann mich nicht konzentrieren bei diesem Gewäsch!“
„Schon, aber bist du nun professioneller Schauspieler oder was? Ein Profi kann bei jedem noch so seichten Gelaber die Anweisungen umsetzen, verdammt, Erwin!“
„Ja ja. Also nochmal!“
Vater: „ Als die Veränderung ihren Höhepunkt hatte, überlebten nur ganz wenige…“
Vater setzt sich mühsam, die Schwere seiner Ausführungen lässt ihn wie einen alten Mann wirken.
„…darunter auch unsere Vorfahren. Wir wissen jetzt, wie fatal die Sorglosigkeit der damaligen Menschheit war.“
Sohn, ungläubig: „Aber warum haben diese Menschen nichts geändert?
Vater: „Sie hätten sehr wohl etwas ändern können. Aber sie wollten nicht. Aus vielen verschiedenen Gründen wollten sie nicht. Einer davon war die Angst, ein anderer war die Gier. Dass sie ihrem Ende entgegen steuerten, interessierte sie nicht. Obwohl viele von ihnen es wussten.“
Sohn, voller Entsetzen: „Ich kann das nicht fassen, Papa.“
„Nein, Burli, du musst das noch viel betroffener sagen, viel entsetzter, so, als ob du es wirklich nicht glauben könntest! Verstehst du? Probier’s nochmal!“ wirft der Regisseur ein.
Sohn, voller Entsetzen: „Ich-kann-das-nicht-fassen, Papa!!!“
„Jaaaa! Besser!“
Vater: „Es ist auch nicht zu fassen, mein Sohn. Wir können uns nicht vorstellen, was in denen vor sich gegangen sein muss. So darf es nie mehr werden! Versprich mir das!“
Nimmt schluchzend ein Taschentuch aus dem Ärmel und schnäuzt sich geräuschvoll.

„So! Danke sehr! Für heute ist es genug, Leute! Lasst uns dieses Pseudodrama beenden, sonst kriege ich noch Migräne!“ erklärt der Regisseur diesen Probentag des Stückes „Zukunft – JETZT!“ für beendet.

„Ich kann dieses lauwarme Endzeit-Klugscheißer-Blabla nicht mehr hören! Schöne Feiertage!“ sagt Burgschauspieler Erwin Mastnak noch beim Gehen, steigt in seinen geräumigen Allrad Diesel SUV und fährt damit geschwind nach Hause ins exzeptionelle Architekteneinfamilienhaus in gesunder, grüner Einzellage.

Nachwuchsstar Bertram Kiepenhaup, vom Regisseur aufgrund enger Freundschaft zu den Eltern liebevoll „Burli“ genannt, wird von der Mutter im schnellen Cabrio abgeholt. Sie bringt sorgfältig vor dem Auskühlen geschützt verpacktes Gourmet-Essen-to-go mit allem drum und dran mit, das sie – zack am Kahlenberg – bei geiler Aussicht genüsslich verzehren. Dann fahren sie tanken.

Der berühmte Regisseur Lorenz Enderlin hat sich nach den Feiertagen noch frei genommen. Mit der Lebensgefährtin steht ein All-inclusive Kurzurlaub auf Mauritius am Programm – endlich mal 2 Tage ausspannen mit Blick aufs Meer; und vielleicht schnittig Water-Scooter-Wellenreiten oder eine Inselrundfahrt mit Motorrädern? Also husch, husch ins Auto, Freundin vom Landgut abgeholt und ab zum Flughafen!

Ute Freyschlag wurde 1979 in Steyr, Oberösterreich, geboren und lebt dort. Sie hat seit 2021 einen Sohn, erfreut sich an Sperlingen, weiteren Äußerungen der Natur, am Lesen und an Musik. Sie besitzt ein Cello namens Franz, auf dem sie regelmäßig dilettiert.
Sie hat in Wien Anthropologie studiert, in Steyr die Ausbildung zur Biomedizinischen Analytikerin absolviert und als Zimmermädchen gearbeitet. Derzeit ist sie Mitarbeiterin der Firma Baumpartner Arboristik GmbH. Vor einigen Jahren hat sie damit begonnen, Geschichten zu verfassen.
Einige davon hat sie bisher in zwei Ausgaben des kreativen Steyrer Magazins kunst + bunt veröffentlicht, ansonsten hat sie noch keine Veröffentlichungen vorzuweisen. Sie ist Mitglied im textQuartett Steyr, einem literarischen Zirkel von Hobbyschreibenden.