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Der fahrradfahrende Koffer

Ich bin ein fahrradfahrender Koffer. Vollgefüllt mit Büchern, die ich gelesen habe, Berichten, die mich zum Nachdenken gebracht und Bildern, die mich inspiriert haben. Meine Fracht wiegt schwer, sie zieht und drückt, nimmt mir beizeiten die Leichtigkeit. Und trotzdem ist sie der Motor, der mich immer wieder anstupst, mich durch diese Zeit trägt, vorbei an Wiesen und Feldern, vorbei an Häuserreihen und dicht befahrenen Straßen, manchmal auf gut ausgebauten Radwegen, dann wieder dicht gedrängt neben lauten Motoren und stinkendem Abgas.

Mein Koffer ist gefüllt mit dem Wissen, dass nicht jeder Waldbrand und nicht jede Überschwemmung eine direkte Folge der Erderhitzung ist, dass aber solche Ereignisse wahrscheinlicher, häufiger und heftiger werden. Und dass unsere momentane Art und Weise zu bauen, uns fortzubewegen und uns zu ernähren, die Ursache ist.

Mein Koffer ist voll von dem Bewusstsein, dass wir alle, vor allem aber wir aus den Ländern des globalen Nordens unsere Lebensweise massiv ändern müssen, damit wir als alte Menschen guten Gewissens sagen können: Wir haben von der Erderhitzung und ihren Folgen gewusst. Und wir haben alles dafür getan, um das Ruder herumzureißen.

Mein Koffer ist gefüllt mit Zukunftsbildern von einer anderen Welt. Einer Welt, in der wir alle aufeinander schauen. In der wir so leben, dass niemand ausbeutet oder zurückgelassen wird, weder Mensch noch Tier noch Natur. Eine Welt, in der wir verinnerlicht haben, dass Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit oft so eng miteinander verwoben sind Wolken und Regen.

Und inmitten dieser Zukunftsbilder radle ich auf meinem Fahrrad, gemeinsam mit meinem Koffer, gemeinsam mit vielen anderen Menschen und ihren Koffern. Wir radeln vorbei an Häuserreihen auf begrünten verkehrsberuhigten Straßen. Vorbei an Fußgängern, die mit ihren Kindern und Großeltern im Schatten der zahlreichen Bäume gehen, die jetzt den Straßenrand säumen.

Auf einer Bank neben einer flatternden und summenden Blumeninsel nehme ich Platz und lege eine Pause ein. Neben mir sitzt eine Frau, ihre beiden Enkelkinder spielen in einer nahegelegenen Sandkiste. Schweigend sitzen wir nebeneinander. Doch dann sieht mich die Frau an und das Lächeln einer zufriedenen Sonntagsspaziergängerin an einem der ersten Frühlingstage im Jahr umspielt ihren Mund. „Man kann sich kaum vorstellen, wie es hier früher war,“ sagt sie. „Grau und laut. Auf den Straßen Autos, Abgase und Parkplätze. Kein Schatten durch Bäume. Und auf den Gehsteigen mussten meine Kinder und ich oftmals hintereinandergehen, weil wir nebeneinander, vor allem mit dem Kinderwagen kaum Platz hatten.“ Sie hält inne, während ihr Blick an einer Hauswand emporgleitet, an der sich saftig grüne Kletterpflanzen ihren Weg in Richtung Himmel bahnen.  „Meinem Sohn,“ spricht sie weiter, „habe ich damals oft verboten mit dem Laufrad zu fahren, aus Angst, dass er von dem schmalen Gehsteig zu schnell auf die Fahrbahn abrutschen könnte. Da habe ich mir oft gewünscht, ich hätte ein Auto, damit wir sicher zum Spielplatz fahren können. Aber ein zweites Auto konnten wir uns nicht leisten. Und das eine, das wir hatten, brauchte mein Mann für seine Arbeit, weil ja dort kein Bus hingefahren ist.“ Sie sieht mich an und lacht. „Komische Zeiten waren das.“

Ja, komische Zeiten, denke ich und lächle zurück. Ich sehe zu meinem Koffer, den ich vor uns auf dem Boden abgestellt habe. Mein Koffer, der immerzu eine schwere Last für mich war, und doch immer auch ein Antrieb. Ein Antrieb stetig weiterzumachen. Nie aufzuhören, sich für eine klimagerechte Welt einzusetzen.

Ich bin ein fahrradfahrender Koffer. Und ich bin es gerne. Denn was wäre ich sonst? Ein leeres Plastiksackerl?


Ana Pawlik www.anapawlik.at

Ana Pawlik wurde 1981 in Deutschland geboren. Nach einer Ausbildung im sozialen Bereich und einer mehrjährigen Rucksackreise durch Afrika, Kanada und Skandinavien strandete sie 2006 in Wien. Inzwischen lebt die Autorin mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Oberösterreich, wo sie als Schriftstellerin und Leichte-Sprache-Texterin arbeitet.